Es ist kurz nach Mitternacht auf dem Segelschiff Julie Marie. Am Horizont sehe ich in unterschiedlichen Richtungen die Lichter der Karibik-Inseln Antigua, Montserrat und Nevis.
Ich habe vom Skipper Simon übernommen und nun für 3 Stunden Schicht: das heißt ich steuere und halte Ausguck. Simon fährt seit vielen, vielen Jahren zur See und hat beruflich vor allem kleine und mittelgroße Schiffe gefahren, meistens Sportboote. Er kennt sich daher insbesondere mit Segeln wahnsinnig gut aus und ich konnte verdammt viel von ihm lernen. Vor allem weil er ein sehr ruhiger und ausgeglichener Typ ist, der schon viel mit Freiwilligen und Neulingen zusammengearbeitet hat und auch bei unnötigen Fehlern ruhig bleibt, erstmal die Situation rettet und einem dann erklärt, was man hätte anders machen sollen. Außerdem ist Simon ein begnadeter Freitaucher und tauchte mit Flossen und ohne Tank problemlos 10, 15 Meter tief und voll ausgestatteten Taucher*innen drunter her.
Wenn ein anderes Boot in der Nähe ist, der Wind dreht, zu- oder abnimmt, o.Ä., schaue ich, ob ich die Situation alleine händeln kann und sonst wecke ich Simon. Wir sind zu zweit unterwegs. Nach 3 Stunden Schicht habe ich also 3 Stunden Pause und muss dann wieder ran. Gerade hab ich 2 Stunden geschlafen und fühle mich fit. Während ich mal den Autopilot eingeschaltet habe, der automatisch den Kurs hält, hab ich Zeit, diese Zeilen zu schreiben und die vielen Gedanken meiner Schichten in Worte zu fassen. Viele Boote nutzen mittlerweile übrigens nur den Autopilot, so auch auf dem vorherigen Katamaran. Sehr komfortabel, aber wer selber steuert, fühlt das Boot und die Bewegungen doch besser.
Ich jedenfalls philosophiere vor mich hin. Segeln das bedeutet Freiheit. Punkt.
Das stand für mich immer fest. Vermutlich weil man auf einem Boot mitten auf dem Meer entschleunigt wird. Und weil man überall hinfahren kann. Und weil man eine unendlich scheinende Weite um sich herum hat. Sternenklare Nächte ohne Lichtdistortion. Man ist einfach so fern von allem anderen und es ist wahnsinnig ruhig:
Ich höre vor allem die Wellen und den Wind wie er in unser Segel bläst. Dazu ab und zu das Knartschen einer Leine und das Klackern einer Tür, die im Rhythmus des Schaukelns in den Angeln knackt.
Man hört alles. Wenn ich eben geschrieben habe, dass ich Ausguck halte, habe ich nicht den wichtigsten Sinn in den Mittelpunkt gestellt: das Hören.
Das führt dazu, dass ich mich auf einem Segelboot so frei fühle. Oder besser befreit?
Denn an der Freiheit nagen doch einige Zweifel.
Das erste Mal fing ich an, darüber nachzudenken, als mir die 11-jährige Stella auf der Beso Del Viento sagte, dass wir doch gar nicht frei wären beim Segeln, weil wir ja nirgends anders hin könnten.
Recht hatte sie. Ich will zwar meistens gar nicht woanders hin wenn ich auf einem Segelboot bin, aber man kann während des Segelns weder morgens Brötchen holen, noch abends in die Kneipe oder mal zwischendurch ne Runde joggen gehen. (Gerade die Bewegung fehlt bei mehreren Wochen auf See sehr und danach ist Laufen auf einmal viel schneller anstrengend)
Ausgenommen sind natürlich Schön-Wetter-Yacht-Charter-Törns wo man an einem Tag 4 Stunden segelt und dann im nächsten Hafen ist.
Doch auch in der Nähe von Land ist man irgendwie ans Boot gebunden. Man kann sich nur entlang der Küste eines Landes bewegen. Bolivien, das keine Küste besitzt, ist so schwer zu besichtigen 😃 Wenn man ankert, braucht man ein Beiboot, um an Land zu kommen. Tagesausflüge sind schon möglich, doch bei längeren Trips muss man überlegen, wer passt aufs Boot auf, wo lassen wir es liegen, etc.
Und zu lange möchte man vom Boot ja auch nicht wegbleiben, weil man entweder gerade viel Geld fürs Chartern bezahlt oder (wenns das eigene ist) man sich fragen muss, wofür man das Boot hat, wenns nur rumliegt. Hinzu kommen Reparaturen, die nicht selten dazu führen, dass man eben doch nicht wann man möchte dorthin fahren kann, wohin man möchte.
Wenn ich eines gelernt habe in der Seefahrt, dann, dass ein Boot immer eine Baustelle ist. Irgendetwas ist immer kaputt und die Liste mit Dingen, die man noch machen will, wird selten kürzer..
All das sollte also überlegt sein, wenn man sich ein Boot anschafft. Irgendwie ist man frei und irgendwie eben doch auch gebunden.
Doch, dass es das Vielen wert ist, verstehe ich total, denn das Gefühl mit einem Boot auf dem Ozean zu sein und Delfine schwimmen um dein Boot, ist unbeschreiblich (neben so viele anderen tollen Dingen, die man erlebt). Dass es ein absolutes Privileg ist, ein eigenes Boot zu besitzen, soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. Zum ökologischen Aspekt beim Segeln, schreibe ich einen Extra-Beitrag.
Ich bin jedenfalls aktuell froh, kein eigenes Boot zu besitzen, sondern einfach auf andere Boot aufzuspringen und sie einen Teil zu begleiten. Dann nehme ich es auch gerne in Kauf, dass ich mal ein paar Tage nicht an Land kann und sehe das eher als Ausdruck meiner aktuellen Freiheit ☺️